Genie und Wahnsinn liegen dicht beisammen, sagt man. Und die Frage, wie ein Genie sein Leben lebt, knüpft sich eng daran. Mehr noch die Frage nach dem Ob-überhaupt. „Gewonnen oder verloren?“ liegt im Kern von René Harders Theaterstück „Kinder der Musik“ und meint das Thema Lebensglück. Ist froher, wer bis nach ganz oben strebt, dass ihm die Welt zu Füßen liegt, oder wer „gesunden“ Erfolg mit „natürlichen“ Bedürfnissen verbindet.
Das Stück um den Ersten Geiger der Neuen Lausitzer Philharmonie, der glückliche Kindheit und Jugend einer lebensfremden Künstlerkarriere vorzog, und sein Vorbild Henryk Wieniawski (1835-80), der mit besessenem Ehrgeiz zum wohl größten polnischen Komponisten wurde, erlebte am Sonntag im Görlitzer Apollo seine Uraufführung. Vor einem erst gespannten, dann bestürzten, schließlich anhaltend begeisterten Publikum.
Gespannt, weil schon Tage zuvor alles so ausverkauft war, dass viele vor der Abendkasse wieder kehrt machen mussten. Bestürzt, weil der Regisseur fast weinte, als er von widrigsten Entstehensumständen, sehr wenig Schlaf und einer katastrophalen Generalprobe sprach und bat, nicht zu viel zu erwarten. Und begeistert über die einfühlsame Verbindung von Schauspiel, Puppenspiel, klassischer Musik, Videoprojektion, Film und Fotografie; über die gekonnte Verknüpfung zweier Künstlerbiografien aus ganz unterschiedlichen Zeiten; aber vor allem über die menschliche Nähe des Stückes.
Besinnungslos Geige üben
Denn nur selten erlebt man, dass die Person, um die sich's dreht, auch mitspielt. Hier aber steht Wasilij Tarabuko als Wasilij Tarabuko,als Beschriebener und Agierender zugleich im Rampenlicht. Während er ein Wieniawski-Konzert gibt, erzählt er selbst, Patrik Lumma als sein kindliches Alter Ego, ein stummer Puppenkopf in dessen Hand und die meist Pantomime spielende Ewa Wróblewska das Leben des aus Weißrussland stammenden Violinisten. Und in seine Geschichte webt sich die Biografie Wieniawskis. Als das Kind Wasil im Internat lebt, besinnungslos Geige übt und unbedingt nach Moskau aufs Konservatorium will, schaut ihm sein Idol vom Diabild über die Schulter. Warnt den Jungen mit Tarabukos Stimme vor dem Selbstverlust, fragt ihn, was er wirklich will, und gibt ihm sanft ein, es sei besser, auf seine innersten Wünsche zu hören. Er selbst, Wieniawski, würde lieber anders gewählt haben. Während dieser, hochberühmt und erfolgreich zwar, aber spielsüchtig, verschuldet und schwerkrank schon in jungen Jahren starb, legt Wasil die Geige zur Seite, um mit seinen Freunden beim Fußball herumzutollen. Ein junger Tarabuko grinst als Tenorhornist einer russischen Militärkapelle von der Leinwand, und der echte Wasilij spielt herzzerreißend und virtuos ein Wieniawski-Stück, als stünde er im Orchestergraben des Görlitzer Theaters. Viel Applaus ist er gewöhnt, und da schlechte Generalproben immer Vorboten grandioser Premieren sind, denkt an Harders Zweifel am Ende keiner mehr.
Sächsische Zeitung, 8. November 2005